Qumran
Die Schriften von Qumran und ihre Bedeutung für das Christentum
Essener-Kloster oder jüdische Siedlung?
Die Schriftrollen vom Toten Meer, auch Schriftrollen von Qumran genannt, wurden in unmittelbarer Nähe von Qumran oder Khirbet Qumran, einer Ruinenstätte im Westjordanland am Toten Meer im Jahre 1947 von Beduinen entdeckt. Sie wurden in insgesamt elf Höhlen direkt an der Küste des Toten Meeres gefunden.
Etwas vorschnell wurden nach dem Fund Siedlung, Höhlen und Rollen mit der Sekte der Essener in Verbindung gebracht. Man hielt die Siedlung für eine umfangreiche Schreiberwerkstatt und den Ort einer monastischen Glaubensgemeinschaft. Heute ist man in vielen Punkten sehr viel vorsichtiger geworden. Das genaue Verhältnis zwischen Rollen, Siedlung und der Gemeinschaft der Essener muss heute als unsicher und höchst umstritten bezeichnet werden. Wenn die Rollen von Qumran aus in die Höhlen gebracht wurden, wurden sie dann auch in Qumran geschrieben? Und wurde das, was geschrieben wurde, auch so geglaubt und so praktiziert in Qumran? Oder vervielfältigte man nur Rollen im Auftrag Anderer? Deponierte man sie nur? Wurden sie sogar von ganz anderen Orten in die Höhlen gebracht, und die räumliche Nähe zur Siedlung ist eher zufällig?
Und ist die Gemeinschaft hinter den Texten der Rollen wirklich essenisch? Ist es überhaupt eine einzelne Gemeinschaft, oder sind es mehrere Gruppen, die die Schriften verfassten und nur mehr oder minder zufällig am selben Ort deponierten? Immerhin wurde ermittelt, dass die Rollen von insgesamt 500 verschiedenen Schreibern stammen. Darunter sind viele Kopien. Die Psalmen liegen beispielsweise in 36 Ausführungen vor. Ist hier also doch eher eine Schreiberwerkstatt aktiv, die für verschiedene Auftraggeber arbeitet? Sind die verschiedensten hymnischen, biblischen, apokalyptischen und ethischen Texte überhaupt auf einen Nenner zu bringen, oder ist sogar der Versuch, dies zu tun, schon verkehrt? Neuere Grabungen lassen Zweifel daran aufkommen, dass die Siedlung eine Art Kloster war. Einige Forscher sprechen im Zusammenhang mit Qumran von einem ganz normalen jüdischen Dorf, in dem etwa 100 Bauern und Handwerker mit ihren Frauen und Kindern lebten und Viehzucht und Dattelanbau betrieben. Auch eine Funktion als Militärlager und als bedeutende Keramikwerkstätte (worauf u. a. die Absetzbecken für Ton deuten) oder Parfüm-Produktionsstätte wurde diskutiert.
Die umfangreichen Rollendepots in den nahe gelegenen Höhlen gehörten möglicherweise also gar nicht den Leuten der Siedlung, sondern wurden in politisch bedrohlicher Zeit, etwa während des jüdischen Krieges, oder des großen Aufstands der Israeliten um 70 n. Chr. gegen die Römer, zum Schutz vor Vernichtung angelegt. Die Schriftrollen müssen also nicht zwangsläufig in der Nähe der Höhlen entstanden oder gelesen worden sein.
Die Schriftrollen von Qumran
Die Legende besagt, die Schriftrollen seien von einem Beduinenhirten gefunden worden, der eine entlaufene Ziege suchte. Als er sie mit Steinwürfen aus einer der Höhlen jagen wollte, hörte er es scheppern. So entdeckte er die Schriftrollen, die in Tonkrügen aufbewahrt wurden und offenbar unversehrt die Jahrhunderte überstanden hatten. Im Januar 1949 wurden vier Schriftrollen durch den Metropoliten Samuel in die USA gebracht. Er hatte sie den Beduinen abgekauft. Am 1. Juli 1954 kaufte Yigael Yadin (ein Archäologe und Dozent an der Hebräischen Universität, früherer Stabschef der israelischen Streitkräfte) die Rollen für 250.000 Dollar und brachte sie nach Israel. Der Kaufpreis wurde von einem reichen Geldgeber aufgebracht.
Bei den Rollen handelt es sich in der Regel um Lederrollen aus Ziegenhaut. Papyrus oder Pergament kommen nicht vor, eine Rolle besteht aus Kupferblech. Der Zustand der Rollen ist sehr unterschiedlich gut bzw. schlecht. Neben der spektakulären Jesajarolle, die fast vollständig erhalten ist, sind andere Rollen stark zerstört und in zum Teil nur daumennagelgroßen Fragmenten erhalten. Die Zahl der Texte und Textreste beläuft sich auf ca. 800. Sie sind in hebräischer, aramäischer, nabatäischer oder griechischer Sprache verfasst. Die Handschriften haben unterschiedliches Alter. Sie stammen aus der Zeit zwischen dem dritten Jahrhundert v. Chr. und der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts n. Chr. (genauer: dem Jahr 68, als die nach Jerusalem ziehende römische Legio X Fretensis Qumran zerstörte). Die Datierung in die letzten vorchristlichen Jahrhunderte erfolgte durch die C14-Methode und verwandte Verfahren und mit der Methode der Paläographie, das heißt anhand bestimmter erkennbarer Schriftstile und Abkürzungen, die sich zeitlich einordnen lassen. Nicht zuletzt helfen auch „innere Kriterien“, d. h. in den Texten erwähnte historische Zusammenhänge. Daher kann die Datierung als relativ sicher gelten.
Dem Inhalt nach handelt es sich teilweise um Toraabschriften und andere Rollen liturgischen Inhalts, wie sie auch heute noch im jüdischen Synagogenkultus und seinerzeit im Jerusalemer Tempel und an möglicherweise anderen Kultorten für den Gottesdienst Verwendung fanden. Die Texte beinhalten Teile des Tanach (Altes Testament der Bibel), Kommentare zu biblischen Texten, sowie bislang unbekannte Schriften, die teilweise einer oder mehreren vorher unbekannten jüdischen Sekten zugeschrieben werden. Andere Rollen zeigen einen profanen Inhalt wie z. B. Inventarlisten.
Der Stein des Anstoßes: Das Fragment „7Q5“ - Ein Teil des Markusevangeliums?
Berühmt geworden ist das Fragment 7Q5 (d. h. Fragment Nr. 5 aus Höhle 7). Es handelt sich dabei um einen Papyrusfetzen von etwa 3 x 4 cm, auf dem lediglich 14 griechische Buchstaben mehr oder weniger vollständig erhalten sind.
Zum ersten Mal ist im Jahr 1972 behauptet worden, dass es sich dabei um ein Fragment des Markusevangeliums handele. Diese These wurde aber bald durch den großen Münsteraner Neutestamentler Prof. Kurt Aland zurückgewiesen. Dennoch trat 1984 Carsten Peter Thiede noch einmal mit dieser These an und veröffentlichte sie vorwiegend in nicht wissenschaftlichen Medien, so dass er sich auf diese Weise der wissenschaftlichen Diskussion entzog. Auf diesen Zug sprangen dann die einschlägig bekannten Sensationsautoren Michael Baigent und Richard Leigh auf, die eine „Jesus-Verschwörung“ belegen wollten. Sie behaupteten, der Vatikan habe die Veröffentlichung der Qumran-Papyri absichtlich verhindert, weil die Qumran-Texte geheime Informationen über Jesus enthalten würden. (Ein weiteres Buch derselben Autoren bildet übrigens auch die Grundlage für Dan Browns Bestseller „Sakrileg“, womit sich der Wirklichkeitsanspruch dieses Romans selbst gerichtet hat!)
Wenn das Qumran-Fragment 7Q5 tatsächlich ein Stück aus dem Markusevangelium enthielte, würde dies die gesamte neutestamentliche Forschung auf eine völlig neue Basis stellen. Denn bisher geht man davon aus, dass das Markusevangelium um das Jahr 70 n. Chr. verfasst worden ist – unter dem unmittelbaren Eindruck der Eroberung Jerusalems und der Zerstörung des Tempels durch die Römer. Da die Schriften von Qumran im Zuge der römischen Eroberung von Judäa in den Jahren 68 bis 70 n. Chr. versteckt worden sind, müsste man logischerweise davon ausgehen, dass das Markus-Evangelium bedeutend früher verfasst worden ist. Man käme dann nicht umhin, von einer Abfassung des Evangeliums um etwa 40 n. Chr. auszugehen, denn es müsste ja bereits 69 oder 70 n. Chr. so weit verbreitet gewesen sein, dass eine Abschrift davon in Qumran existieren konnte.
Es ist also verständlich, dass die These von der Existenz eines Markus-Texts in Qumran auf breite Resonanz gestoßen ist.
Thiede muss zur Aufrechterhaltung seiner Theorie mit einigen Hilfshypothesen arbeiten, so dass die Identifizierung auf äußerst wackligen Beinen steht. Schon bevor man auf den Text des Papyrus eingeht, stößt man auf die erste große Schwierigkeit:
Der Papyrus stammt von einer Rolle. Dies kann man daran erkennen, dass er nur von einer Seite beschrieben ist. Die gesamte handschriftliche Überlieferung des griechischen Neuen Testaments aber bezeugt, dass neutestamentliche Texthandschriften ausschließlich in Form von Codices – also in Form eines Buches und eben nicht als Schriftrollen – gestaltet wurden. Eine Buchseite ist aber in der Regel auf Vorder- und Rückseite beschrieben.
Thiede muss also annehmen, bei dem Fragment 7Q5 handele es sich um das einzige Stück des Neuen Testaments, das auf einer Rolle aufgeschrieben worden ist. Dies wäre ganz ungeheuerlich, denn es handelt sich bei der neutestamentlichen Überlieferung um etwa 5400 Handschriften mit dem griechischen Text plus ca. 9000 antike Handschriften mit Übersetzungen ins Lateinische, koptische, syrische etc. – so gut ist kein anderer Text aus der Antike belegt!
Und blickt man nun auf den Text des Papyrus, so stößt man auf weitere Ungereimtheiten.
Zur Verdeutlichung:
Wäre der Papyrus 7Q5 nicht ein griechisch, sondern ein deutsch geschriebenes Fragment, sähe er etwa so aus:
A
HR
RGEV
NNEZ
ANU
In der Antike wurden die Wörter in großen Buchstaben und meist ohne Zwischenraum geschrieben.
Thiede behauptet, im Griechischen ließen sich die Buchstaben zum Text von von Mk 6, 52-53 ergänzen:
DENN SIE WAREN UM NICHTS
VERSTÄNDIGER GEWORDEN ANGESICHTS
DER BROTE, SONDERN IHR HERZ WAR VERHÄRTET.
UND ALS SIE HINÜBERGEVAHREN WAREN,
KAMEN SIE NACH GENNEZARETH
UND LEGTEN AN. UND ALS SIE AUS DEM BOOT
STIEGEN, ERKANNTEN IHN DIE LEUTE ALSBALD.
Man kann auf Anhieb zwei gravierende Fehler erkennen. Ein Buchstabe ist falsch geschrieben: Statt „GEVAHREN“ müsste es „GEFAHREN“ heißen. Und wer diesen Text mit dem Text der Lutherbibel vergleicht, stellt fest, dass ein Ausdruck fehlt, nämlich „ANS LAND“. Ein falscher Buchstabe und der fehlende Begriff – zwei Dinge, die Thiedes Identifizierung äußerst unwahrscheinlich erscheinen lassen. Einen gewissen Rückhalt hätte Thiede, wenn die Auslassung in einer anderen neutestamentlichen Handschrift belegt wäre. Dem ist aber nicht so.
Ebenso verhält es sich mit dem Schreibfehler. Thiede postuliert eine Lautverschiebung: Im Griechischen handelt es sich bei dem im Papyrus stehenden Buchstaben um ein Tau (t), es müsste aber ein Delta (d) dort stehen. Diese Buchstaben sind zwar lautgeschichtlich miteinander verwandt, den konkreten Beleg dafür, dass eine solche Lautverschiebung zur Zeit der Abfassung des Papyrus in Judäa häufiger auftritt, bleibt Thiede jedoch schuldig.
Außerdem begeht Thiede einen ganz handwerklichen Fehler: Er identifiziert von diesen ohnehin wenigen Buchstaben einen entgegen der allgemein anerkannten Lesung, und nach Meinung der führenden Papyrologen eindeutig falsch. Außerdem kann er keinen plausiblen Vorschlag zur Textverteilung auf der Spalte der ursprünglichen Papyrusrolle machen.
Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass das einzige vollständige Wort, das von den ohnehin nur 14 erhaltenen Buchstaben gebildet wird, das griechische Wort für „und“ (kai) ist. Dieses Wort hat für die Identifizierung eines Texts so gut wie keine Aussagekraft. Man kann also mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass es sich bei dem Fragment 7Q5 nicht um ein Bruchstück des Markus-Evangeliums handelt! (Und eine Vertuschung des Vatikans hat es erst recht nicht gegeben, denn der hatte mit der Publikation überhaupt nichts zu tun; die lag nämlich in den Händen von israelischen und amerikanischen Forschern. Die Veröffentlichung hat angesichts der filigranen Arbeit der Rekonstruktion mehrere Jahrzehnte gedauert, ist aber heute abgeschlossen – vom Zurückhalten geheimer Informationen kann also keine Rede sein!)