Geschichte der Alten Kirche
Das Zeitalter der Apostolischen Väter
Unter den Apostolischen Vätern versteht man die christlichen Autoren des späten ersten und der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts. Sie sind die Nachfolger der Apostelgeneration und haben wahrscheinlich zu einem oder mehreren Aposteln eine enge und prägende Lehrer-Schüler-Bindung gehabt. Gekennzeichnet ist das Zeitalter der Apostolischen Väter durch ein reiches Schrifttum. Dies beweist, wie sehr das frühe Christentum um die eine Wahrheit ringt und sie verbreiten will. Das Schaffen der Apostolischen Väter fällt in eine Zeit, in der sich das Christentum aufgrund der ausbleibenden Wiederkunft Christi in seinen weltlichen Bezügen positionieren musste. Es ergaben sich im Vollzug des Glaubens ganz alltägliche Schwierigkeiten, die einer einheitlichen Lösung bedurften, die möglichst verbindlich für die Christenheit sein sollte.
Für die Apostolischen Väter erwuchs in der alten Kirche schnell eine stark legendarisch geprägte Verehrung, so dass über die Gestalten, die sich hinter diesen Schriften verbergen, nur wenige zuverlässige biographische Informationen vorliegen. Wir wollen uns daher im Folgenden darauf beschränken, ihre bedeutsamsten Schriften zu nennen und vorzustellen. Nur dann, wenn darüber hinaus etwas Verlässliches über ihr Leben bezeugt ist, wird es hier auch dargestellt.
Die wichtigsten Schriften der Apostolischen Väter
1. Clemensbrief (ca. 95 n. Chr.)
Beim 1. Clemensbrief handelt es sich um ein Schreiben des Clemens von Rom an die Gemeinde von Korinth. Dort waren Personen aus der Gemeindeleitung abgesetzt worden, so dass eine Spaltung der korinthischen Gemeinde drohte. Clemens ruft die Gemeinde von Korinth zur Ordnung auf und begründet dies theologisch. Er legt aus, dass Gott stets als ein Gott der Ordnung in Natur und Geschichte wirke. Diese Ordnung gelte es einzuhalten. Daher müsse die korinthische Gemeinde zur Einheit zurückkehren.
Ignatius–Briefe / Ignatianen (um 115 n. Chr.)
Die Ignatianen sind sieben Briefe, die von Ignatius von Antiochia verfasst worden sind. Sie thematisieren das Wirken des Geistes, sind also charismatische Schriften. Des weiteren wenden sie sich gegen Irrlehren und fordern bedingungslosen Gehorsam gegenüber dem Bischof als Abbild des Gehorsams gegenüber Gott ein. Besondere Bedeutung kommt den Ignatianen zu, da in ihnen zum ersten Mal von der kavolikh4 e3kklhsi6a die Rede ist.
Polycarp–Brief (110 n. Chr. in Smyrna)
Der Brief des Polycarp an die Philipper ist ein Mahn- und Lehrschreiben, das vermutlich in seiner heutigen Form aus einer Kombination von ursprünglich zwei Schreiben des Polycarp hervorgegangen ist.
Barnabas–Brief (etwa 130 n. Chr. in Ägypten)
Der Barnabas-Brief ist kein Brief im eigentlichen Sinne, sondern eher ein theologisches Traktat, das sich vorwiegend der Bedeutung des alttestamentlichen Gesetzes für die Christen widmet. Der Autor ist der Meinung, die jüdischen Vorschriften seien für einen Christen bedeutungslos. Der Name des Autors wird im Text selbst an keiner Stelle genannt; er ist lediglich durch die Überschrift bezeugt. Eine Gleichsetzung des Autors mit dem neutestamentlichen Barnabas gilt als ausgeschlossen.
Papias–Fragmente (etwa 130 n. Chr.)
Die so genannten Papias-Fragmente, die aus der um 130 n. Chr. in fünf Büchern verfassten Schrift „Auslegung der Worte des Herrn“ (logi6wn kuriakw7n e3xhgh4seij) stammen, betrachten die Weltgeschichte in sechs Jahrtausenden. Diese entsprechen den sechs Schöpfungstagen. Am Ende der Zeiten wird eine tausendjährige Christusherrschaft erwartet (Chiliasmus).
Didache (Zwölf-Apostel-Ordnung, erste Hälfte des zweiten Jahrhunderts n. Chr.)
Die Didache (didach5) oder auch doctrina apostolorum (= Lehre der Apostel) beinhaltet kultische Vorschriften z. B. die Taufe, die kirchliche Liturgie oder das Fasten betreffend sowie feste Verhaltensregeln für das alltägliche Gemeindeleben.
2. Clemensbrief (um 140 n. Chr.)
Beim 2. Clemensbrief handelt es sich im eigentlichen Sinne gar nicht um einen Brief. Außerdem stammt er höchstwahrscheinlich nicht von Clemens selbst. Vielmehr liegt hier eine Homilie eines Presbyters vor. Interessant ist dieser Text für die moderne Forschung besonders deshalb, weil er Herrenworte enthält, die in der kanonischen Überlieferung des Neuen Testaments nicht zu finden sind.
Hirt des Hermas (150 n. Chr. in Rom)
Die Hauptthemen dieser Schrift sind Taufe und Buße. Hermas postuliert eine Verpflichtung zum heiligen Leben, die aus der Kraft der Taufe heraus erwächst. Jegliche Sünde wird als Verhängnis bewertet. Der Text ist geprägt von einer starken Parusie-Erwartung. Hermas erwartet die baldige Wiederkehr Christi in Form eines Gerichts. In einem zweiten wichtigen Teil wird eine Vision wiedergegeben, die eine Möglichkeit zur wiederholten Buße einräumt.
Ausbreitung des Christentums
Seit der Zeit der Apostel hat das Christentum eine rasante Expansion erlebt. Es breitete sich überraschend schnell und gleichmäßig innerhalb des Römischen Reiches aus. Zentrum dieser Verbreitung war das hellenistisch geprägte Kleinasien, die heutige Türkei. Die gemeinsame Sprache der Kirche war das Koine-Griechisch, wodurch ein reger geistiger Austausch mit Gläubigen in allen Regionen des Römischen Reichs ermöglicht wurde. Einen besonderen Nährboden für das Christentum stellt die hellenistische Kultur, besonders der mittlere und neue Platonismus dar, worin viele Gedanken, die das Christentum umgesetzt hat, bereits angelegt waren. Zuträglich war außerdem eine überwiegend tolerante Religionspolitik der römischen Herrscher. Zudem förderte die pax Augusta, sowie der intensive Handel zwischen den Provinzen die Ausbreitung der christlichen Religion.
Neben diesen äußeren Gründen waren es aber auch innere Ursachen, die das Christentum für seine Umwelt attraktiv machten. Die Christen wandten eine Lebensführung an, die sich radikal von derjenigen der Heiden unterschied. Jeder Christ konnte eine viel tiefere persönliche Beziehung zu seinem Gott haben als dies die heidnischen Kulte erlaubten; dem Christen war das freie Gebet möglich, das nicht in kultische Formeln gepresst werden musste. Im Christentum waren aber auch das karitative Engagement und die Gleichberechtigung von Frauen sowie Sklaven innerhalb der Gemeinde wichtige und attraktive Neuerungen. Gegenüber der heidnischen Gesellschafts- und Frömmigkeitsstruktur, die stets auf das Wohl der res publica bzw. des imperium ausgerichtet war, bot das Christentum auch dem einzelnen Gläubigen die Möglichkeit einer individuellen Gottesbeziehung.
Frühe Christenverfolgungen und ihre Ursachen
Um 64 n. Chr. kam es unter Kaiser Nero zu einem lokal begrenzten Pogrom gegen Christen in Rom, bei dem vermutlich Petrus und Paulus das Martyrium erlitten haben. Nero benutzte die Christen als „Sündenbock“ für den Brand Roms, den er höchstwahrscheinlich selbst gelegt hatte. Im Jahr 95 n. Chr. gab es unter Domitian Verfolgungen von Christen in Rom und Kleinasieniv, und ab 100 n. Chr. wiederum einzelne, lokal begrenzte Verfolgungen. In diese Zeit fällt auch der berühmte Christenbrief des Plinius, sowie das Reskript Trajans.
(vollständige Textquelle auf unserer Seite zu ⇒ Christenverfolgungen im Römischen Reich.)
Das ⇒ Misstrauen der heidnischen Bevölkerung und der staatlichen Organe gegenüber den Christen wurzelte im Wesentlichen in der Tatsache, dass die Christen die existierenden Verhältnisse in Staat und Gesellschaft radikal in Frage stellten und damit das bestehende gesellschaftliche Fundament gefährdeten. Sie taten das zwar nicht explizit, ihre Lebensweise, die von der übrigen Bevölkerung häufig als weltabgewandt empfunden wurde, zeugte aber von dieser Haltung. Zudem machten ihr enges und zurückgezogenes Gemeinschaftsleben, die strenge Lebensführung, sowie die Bereitschaft, für den Glauben in den Tod zu gehen die Christen zusätzlich verdächtig.
weitere Informationen: ⇒ Christenverfolgungen im Römischen Reich...
Juden und Christen in nachapostolischer Zeit
Im Jahre 70 n. Chr. wurde im Zuge der Niederschlagung eines jüdischen Aufstands der Tempel in Jerusalem durch die Römer zerstört. Im zweiten nachchristlichen Jahrhundert, unter den Kaisern Trajan und Hadrian, wurde dann der jüdische Widerstand gegen Rom, der sich im so genannten Bar-Kochba-Aufstand manifestierte, endgültig niedergeschlagen. Eine Folge hieraus war der Abschluss des Judentums nach innen, was sich v. a. im 18-Bitten-Gebetviii niederschlägt. Dort findet sich eine Verfluchung von Separatisten. Die christliche Jerusalemer Gemeinde, die aus Judenchristen – also zum Christentum übergetretenen Juden – bestand, floh ins Ostjordanland und verlor stark an Bedeutung. Andere christliche Gemeinden hingegen wurden zunehmend selbstbewusst und entwickelten z. T. eine antijüdische Ausprägung (dies schlägt sich etwa im Barnabasbrief oder den Ignatius-Briefen nieder). Das so erstarkende Heidenchristentum wendet sich von den jüdischen Geboten ab, was letztlich dazu führt, dass das frühe Christentum sich zunehmend mit der hellenistischen Welt arrangiert und schließlich in den griechischen Kulturkreis eingebettet wird.
Die Konsolidierung der kirchlichen Ordnung
Im Urchristentum waren die Gemeindefunktionen vor allem charismatisch geprägt (Apostel, Propheten, Lehrer); ein Amtsträger musste also, um für dieses Amt geeignet zu sein, in besonderer Weise mit dem Heiligen Geist gesegnet sein. Daraus ergaben sich bereits in urchristlicher Zeit zwei Modelle von Gemeindeleitung:
die aus der judenchristlichen Strömung kommende Presbyterialordnung
und
die durch Paulus geprägte Episkopalordnung.
In der Zeit der Apostolischen Väter verschmolzen beide Modelle; es entstand die Ämtertrias Bischof, Presbyter und Diakon. Bereits in dieser Zeit galt das Bischofsamt als besonderes Leitungsamt mit Vorbildcharakter für die Gemeindeglieder. Der Monepiskopat bildete sich zuerst in Syrien und Kleinasien heraus. Eine wichtige Quelle hierfür sind die Ignatius–Briefe. Die Feier der Ordination entwickelte sich nach jüdischem Vorbild etwa um das Jahr 100 n. Chr. in Kleinasien. Prägend für den Monepiskopat war der Gedanke der apostolischen Sukzession. Durch sie sollte sichergestellt werden, dass durch die ununterbrochene Folge der Amtseinsetzungen die rechte Lehrtradition jeweils übernommen und weitergegeben wurde (sog. traditio apostolica).
Die Apologeten
Eine wichtige Neuerung, die die apologetischen Schriftsteller in die christliche Literatur hinein brachten, war die Tatsache, dass nunmehr nicht mehr primär Christen für Christen schrieben, sondern dass christliche Schriftsteller mit ihren Texten nun offensiv auch an ein heidnisches Publikum herantraten. In diesen Schriften finden Auseinandersetzungen mit Philosophie, den heidnischen Götterkulten und den Anfeindungen statt, denen sich Christen ausgesetzt sahen. Oft sind die apologetischen Schriften an hohe Verwaltungsbeamte des römischen Staates, zu Zeiten des Kaisers Marc Aurels sogar an diesen selbst adressiert.
Grundsätzlich versuchen alle Apologeten, das Christentum als legitime Religion zu erweisen, die nicht den römischen Staat untergräbt. Die christliche Religion wird vielmehr in der apologetischen Literatur häufig als vernunftgemäße Religion dargestellt, die vom λογος gelenkt ist und eben nicht vom pa4voj. Meist geht diese Darstellung mit einer Verwerfung der gegenwärtigen philosophischen Strömungen einher, die allerdings Platon und Sokrates ausnimmt, da der von diesen postulierte λογος, der von Anbeginn der Welt an existierte, von den Christen als „Christus vor Christus“ interpretiert wurde. Platon und Sokrates werden also in gewisser Weise als Wegbereiter für das Christentum betrachtet.
Wichtige Apologeten und ihre Werke
Justin der Märtyrer († um 165 n. Chr.)
Justin gilt als christlicher Philosoph. Er hatte sich bereits mehreren Philosophenschulen angeschlossen, bevor er sich dem Christentum zuwandte. Seine besondere Leistung besteht darin, die griechische – v. a. platonische – Philosophie christlich adaptiert und neu gefüllt zu haben. Justin verfasste zwei Apologien, sowie den „Dialog mit dem Juden Tryphon“, eine Schrift in der Tradition der platonischen Dialoge.
⇒ weitere Informationen zu Justin...
Tatian
Tatian war ein Schüler Justins. Sein Hauptwerk ist die „Rede an die Hellenen“. Dabei handelt es sich weniger um eine Apologie als vielmehr um eine Streitschrift gegen die gesamte griechische Kultur. Ein weiteres bedeutendes Werk Tatians ist das Diatessaron, eine Evangelienharmonie, die die vier Evangelien zu einer einheitlichen Darstellung zusammenfasst.
Aristides († um 125 n. Chr. in Athen)
Über das Leben des Aristides ist nichts bekannt. Von ihm ist lediglich eine Apologie erhalten, die an Kaiser Hadrian gerichtet ist.
Athenagoras
Athenagoras lebte und wirkte vermutlich in der zweiten Hälfte des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts. Um das Jahr 160 n. Chr. herum bekehrte er sich zum Christentum und wurde Lehrer an der Katechetenschule in Alexandria. Von ihm sind zwei Schriften erhalten: Die Legatio pro Christianis, eine an Mark Aurel und dessen Sohn Commodus gerichtete Apologie, und das Traktat De resurrectione mortuorum.
Melito von Sardes († etwa 175 n. Chr.)
Melito beschreibt die Entstehung und das Wachsen der Kirche und verbindet diese mit der Blüte des Römischen Reichs. In seiner wichtigsten Schrift peri& Pa4sca (Vom Passa), einer Osterpredigt, begründet er das Leid der Juden in der Diaspora damit, dass sie für den Tod Jesu am Kreuz verantwortlich gewesen seien. Seine Osterpredigt ist auch deshalb so bedeutsam, da Melito sich in ihr als starker Verfechter für die Osterfeier am 14. Nisan zeigt.ii
Minucius Felix
Die wichtigste Schrift des Minucius Felix ist der Octavius. Es handelt sich hierbei um ein fiktives Streitgespräch zwischen einem platonisch gebildeten Heiden und einem Christen. Nach der Widerlegung aller Einwände gegen die christliche Lehre und die Lebensweise der Christen bekehrt sich der Heide. Auffällig ist das völlige Fehlen einer dogmatischen Entfaltung bei der Darstellung der christlichen Lehre; nicht einmal Jesus Christus wird explizit erwähnt. Man hat deshalb vermutet, dass Minucius Felix einer häretischen Strömung angehört haben könnte.
Tertullian († nach 220 n. Chr.)
Quintus Septimius Florens Tertullianus wurde um das Jahr 160 n. Chr. in Karthago geboren. Sein Vater war wahrscheinlich ein heidnischer römischer Hauptmann. Tertullian erhielt eine gründliche wissenschaftliche, insbesondere juristische und rednerische Ausbildung. Auch die griechische Sprache beherrschte er gut. Wahrscheinlich übte er den Beruf des Gerichtsredners aus, unter anderem auch in Rom. Um 195 n. Chr. kehrte er von dort, zum Christentum bekehrt, in seine Heimatstadt zurück und begann eine rege literarische Tätigkeit im Dienste der Kirche. Spätestens 207 n. Chr. vollzog er seinen Bruch mit der Kirche und wandte sich den Montanisten zu. Er starb nach 220 n. Chr. in Karthago.
Tertullian hat ein umfassendes Werk hinterlassen, das größtenteils auf uns gekommen ist. Seine wichtigste Schrift ist der liber apologeticus, das sog. Apologeticum, in dem er sich mit den heidnischen Vorurteilen gegen das Christentum auseinandersetzt. Charakteristisch für Tertullian ist seine messerscharfe Rhetorik, die an Gerichtsreden erinnert.
Cyprian von Karthago († 258 n. Chr.)
Cyprian, Bischof von Karthago in der Zeit der Decischen Verfolgung, verfasste vornehmlich Briefe, in denen er sich mit drängenden theologischen Problemen seiner Zeit auseinandersetzt.
⇒ weitere Informationen zu Cyprian...
Der christliche Gnostizismus
Unter dem Begriff „Gnostizismus“ fasst man diverse Richtungen zusammen, welche die späthellenistische synkretistische religiöse Bewegung der Gnosis in das System einer Weltdeutung erhoben haben. Dementsprechend versucht der christliche Gnostizismus, das Christentum in ein allgemeines gnostisches religionsphilosophisches System einzufügen.
Da die verschiedenen Richtungen des christlichen Gnostizismus als Häresien galten, sind die wichtigsten Quellen für dieses Phänomen ab 400 n. Chr. von den rechtgläubigen Christen weitgehend vernichtet worden. Eine kleine Anzahl von Schriften des christlichen Gnostizismus ist aber in koptischer Übersetzung erhalten geblieben: so etwa die Pistis Sophia oder die zahlreichen Nag-Hammadi-Texte (z. B. das Thomasevangelium oder das Evangelium der Wahrheit). Die Strömung des christlichen Gnostizismus wird jedoch auch in den anti-gnostischen Schriften des Irenäus, Tertullian oder Hippolyt greifbar und z. T. rekonstruierbar.
Ausgangspunkt christlich-gnostischer Spekulationen ist stets die Seele des Menschen, die sich erlösungsbedürftig und gefangen in der materiellen Welt nach ihrem göttlichen Ursprung zurücksehnt. Diese Erlösung kann durch Erkenntnis (γνωσις) über ihren Ursprung und ihr Ziel erreicht werden. Hier zeigt sich ein wesentlicher Dissens von der rein christlichen Lehre: Im christlichen Gnostizismus ist der Mensch in der Lage, sich selbst zu erlösen, während die Erlösung des Menschen nach christlicher Vorstellung allein durch göttliche Gnade erfolgen kann.
Christlich-gnostisches Gedankengut ist vor allem durch einen stark ausgeprägten Dualismus zwischen Geist und Materie, Gut und Böse, Gott und Welt gekennzeichnet. Dabei wird unterschieden zwischen dem höchsten Gott und einem niederen Weltschöpfer, dem so genannten Demiurg. Der höchste Gott sendet einen himmlischen Erlöser in die materielle Welt. Dieser Gottessohn ist aber nur äußerlich mit dem Menschen Jesus verbunden; bei der Kreuzigung trennt er sich wieder von Jesus. Man spricht angesichts dieser nur scheinbaren Menschwerdung des Gottessohnes von doketischer Christologie. Aus der negativen Bewertung der materiellen Welt entstanden zwei wesentliche ethische Ausrichtungen des christlichen Gnostizismus. Da die Erlösung der Seele in der Befreiung des Geistes von der Materie besteht, übten einige christlich-gnostische Gruppierungen einen streng asketischen Lebenswandel, um die Erlösung zu erreichen. Aus der Auffassung, die Materie sei ohne Bedeutung entsprang jedoch ebenso eine libertinistische Grundhaltung einiger Gruppierungen in Form von Ausschweifungen aller Art.
Wichtige Gestalten des christlichen Gnostizismus waren der in der Apostelgeschichte erwähnte Simon Magus und Kerinth, der um 100 n. Chr. in Kleinasien auftrat. Es sind aber v. a. drei große Systeme des christlichen Gnostizismus greifbar:
Die Ophiten (von griech. οφις = Schlange) oder auch Naassener (von hebr. naas = Schlange) sahen in der Schlange der biblischen Schöpfungsgeschichte die von Gott gesandte Vermittlerin der wahren Gnosis und verbanden diese Lehre mit orientalischer und ägyptischer Mythologie. (Eine Quelle hierfür ist der sogenannte Naassener-Psalm.)
Der aus Syrien stammende Basilides ist der Gründer des Schule der Basilidianer in Alexandrien, die ab 130 n. Chr. greifbar ist. Er hat zahlreiche Schriften verfasst, von denen aber fast nichts erhalten ist, so dass die Forschung zur Rekonstruktion seiner Lehren auf die Informationen der christlichen Schriftsteller angewiesen ist. Basilides vertrat eine dualistisch geprägte Weltauffassung: Licht und Finstenis, Geist und Materie, Seele und Körper. An vielen Stellen ist der Einfluss persischer Mythologie spürbar. Basilides geht davon aus, dass der Schöpfergott, der „ungewordene Vater“, seinen Sohn, den νους (= Geist) in die Welt entsandte, damit sich dieser mit Jesus verbindet. Im Kreuzestod löst sich diese Verbindung jedoch; Basilides ist demnach auch ein Vertreter des Doketismus.
Valentin, ein aus Alexandria stammender Schüler des Basilides setzt sich v. a. mit dem Theodizee-Problem auseinander, indem er fragt, woher das Böse stammt, wenn die Welt doch im guten Gott gründet. Seiner Ansicht nach entsteht die Welt aus dem Fall der präexistenten Weisheit (Sophia). Der sog. Sophia-Mythos erzählt auf mythologische Weise die biblische Heilsgeschichte nach und versucht so, eine Antwort auf die Frage nach der Weltentstehung und der Erlösungssehnsucht zu geben.
Mehr zu Simon Magus: ⇒ Simon Petrus und Simon Magus in Rom - ein Magierwettstreit
Der „Erzketzer“ Marcion
Marcion, der in der Kirchengeschichte oft als „Erzketzer“ bezeichnet wurde, war ein Schiffsreeder aus Sinope am Schwarzen Meer, wo sein Vater den Bischofssitz innehatte. Zur Zeit des Kaisers Antoninus Pius kam Marcion nach Rom, wo er zunächst innerhalb der dortigen Gemeinde für seine Ideen warb. Um 144 n. Chr. trennte er sich von der römischen Christengemeinde, bzw. der gesamten Großkirche und gründete eigene Gemeinschaften, die sich rasch ausbreiteten und von ihren Gegnern schnell als Marcioniten bezeichnet wurden.
Marcion verstand sich selbst als Reformator, der die christliche Verkündigung von allen so genannten judaistischen Verfälschungen reinigen wollte. Das von Marcion propagierte Ziel war die Rückkehr zur wahren paulinischen Lehre. Marcion legte erstmals einen geschlossenen Kanon neutestamentlicher Schriften vor, den er den alttestamentlichen Schriften entgegenstellte, die er vollständig verwarf. Dieser Kanon enthielt ein von allen alttestamentlichen Zitaten gereinigtes Lukas-Evangelium und zehn Paulusbriefe. Dieser Kanon sollte verhindern, dass jüdische Denkweisen in das Evangelium eindrangen. Marcion hat insofern für die Kirchengeschichte eine entscheidende Rolle gespielt, als in Abgrenzung von seinem Kanon auch die orthodoxe Kirche gezwungen war, eine verbindliche Sammlung der rechtgläubigen Schriften vorzulegen.
Obwohl Marcion eine doketistische Christologie vertrat, ist er nicht ohne Weiteres dem christlichen Gnostizismus zuzuordnen. Marcions Lehre weist beispielsweise keinerlei synkretistische Tendenzen auf, die für christlich-gnostische Gruppierungen charakteristisch sind. Dennoch wird man nicht umhinkommen, davon auszugehen, dass Marcion vom christlichen Gnostizismus beeinflusst war. So behauptet etwa Irenäus, Marcion sei ein Schüler des Gnostikers Cerdo gewesen.
Entstehung der frühkatholischen Kirche
Die katholischen Normen
Unter den so genannten katholischen Normen versteht man die Trias von neutestamentlichem Kanon, ⇒ regula fidei und Monepiskopat. Diese sind im Wesentlichen um 200 n. Chr. ausgebildet. Mit ihnen versuchte die Kirche, den Einfluss des christlichen Gnostizismus einzudämmen und sich von häretischen Gruppen wie den Marcioniten oder den Montanisten abzuwenden. Der exklusive Anspruch des Christentums in Form der Kirche wurde also untermauert.
Der ⇒ neutestamentliche Kanon wurde aus verschiedenen Gründen für die frühen Christen notwendig. Bereits in früher Zeit nutzten sie in ihren gottesdienstlichen Versammlungen neben den Schriften der Septuaginta (LXX) auch diverse frühchristliche Schriften. Schnell entstand das Bedürfnis, diese in Gruppen oder Sammlungen zusammen zu fassen. So wurde bereits um 100 n. Chr. eine Sammlung von Paulus-Briefen im Gottesdienst benutzt und um 150 n. Chr. löste in Kleinasien die Gruppe der vier Evangelien eine bis dahin vorwiegend mündliche Überlieferung der Jesus-Worte ab.
Durch das Wirken Marcions, der in Ablehnung der jüdischen Traditionen im Christusglauben erstmals eine für ihn und seine Anhängerschaft verbindliche Sammlung von Schriften vorlegte, wurde die Kirche unter Zugzwang gesetzt. Die Antwort auf den Kanon Marcions war die Zusammenführung der vier Evangelien mit der Sammlung der Paulusbriefe. Hinzugefügt wurde noch die Apostelgeschichte, sowie der erste Petrusbrief, die drei Johannesbriefe und die Offenbarung des Johannes. Den hohen Grad an Verbindlichkeit dieser Sammlung kann man daran ablesen, dass schon Irenäus seine Verwerfung der gnostischen Lehren mit Hilfe der Schriften dieses Kanons belegt.
Ein wichtiges Dokument in diesem Zusammenhang ist der sogenannte Canon Muratori, eine heute in Mailand aufbewahrte, auf Pergament erhaltene Abschrift eines älteren Dokuments. Auch wenn die Abschrift wesentlich jünger ist, stammt die Vorlage doch wahrscheinlich aus der Zeit um 200 n. Chr. und verweist nach Rom.
Man kann davon ausgehen, dass gegen Ende des vierten nachchristlichen Jahrhunderts der Prozess der Kanonbildung abgeschlossen war und in seinem Umfang feststand. Im 39. Osterfestbrief des Athanasius aus dem Jahre 367 n. Chr. wird erstmalig eine Liste aller 27 Schriften geboten, die bis heute den neutestamentlichen Kanon bilden.
Mit dem Begriff ⇒ regula fidei werden die normativen Elemente der apostolischen Verkündigung bezeichnet, die für alle Gemeinden der Kirche als verbindlich angesehen wurden. Es handelt sich also gewissermaßen um die Essenz der gesamten apostolischen Botschaft. Zu Beginn ihrer Entstehung war die ⇒ regula fidei eine zunächst eingliedrige, dann zwei- bis dreigliedrige Bekenntnisformulierung. Zum ersten Mal begegnet uns eine solche Formel außerhalb des Neuen Testaments in Form des sogenannten ⇒ Romanum, dem römischen Taufsymbol, oder –bekenntnis, das vermutlich um etwa 150 n. Chr. entstanden ist:
In der Weiterentwicklung dieses noch recht schlichten Bekenntnisses wird dieses im Laufe der Zeit zunehmend mit theologischen Inhalten versehen; so wird etwa die christologische Komponente noch um zahlreiche Angaben ergänzt. Das Ergebnis dieses Prozesses ist das auch heute noch verbindliche sogenannte Apostolische Glaubensbekenntnis (Apostolicum). Diese formelhafte Zusammenfassung des christlichen Bekenntnisses diente vornehmlich der Abgrenzung von Häretikern.
⇒ Weitere Informationen zur Entstehung des christlichen Glaubensbekenntnisses...
Der Monepiskopat entstand erstmals in Kleinasien, wo aus dem Kollegium der Presbyter ein Einziger die Leitung übernahm. Der Grund hierfür lag ebenfalls in der Abwehr von Häresien, und der Bezeugung von christlicher Wahrheit, was eine einzelne Person besser leisten konnte, als ein Gremium. Der Zweck des Monepiskopats lag vornehmlich. in der Bewahrung des christlichen Glaubensguts. Zudem wurde durch die ununterbrochene Abfolge von Bischöfen sichergestellt, dass die apostolische Tradition gewahrt blieb. Wichtige Kirchenschriftsteller dieser Zeit waren Irenäus von Lyon, Clemens von Alexandria und Tertullian.
Das Christentum im dritten und vierten Jahrhundert
Die Konstantinische Wende
Das dritte nachchristliche Jahrhundert war vor allem durch ein wachsendes kirchliches Selbstbewusstsein und der damit verbundenen Ausbreitung des Christentums bestimmt. Ebenso war die Kirche aber auch in der zweiten Hälfte des dritten nachchristlichen Jahrhunderts den schweren ⇒ Verfolgungen ausgesetzt. In den Jahren 249 – 251 n. Chr. fand die erste reichsweite und systematische ⇒ Verfolgung von Christen unter Kaiser Decius statt. Bereits wenige Jahre später – 257 oder 258 n. Chr. – folgte dann die zweite schwere Verfolgung unter Valerian, bevor es dann 303 – 311 zur letzten großen ⇒ Christenverfolgung unter Kaiser Diokletian kam. Trotz dieser ständigen Bedrohung von Personen und Institutionen der Kirche konnten die Christenverfolgungen die Kirche nicht in ihrem Bestand gefährden.
Herausragende Persönlichkeiten dieser Zeit waren der etwa 185 n. Chr. im nordägyptischen Alexandria geborene Theologe Origenes und ⇒ Cyprian von Karthago.
Motiviert war die ⇒ staatliche Verfolgung der Christen im Wesentlichen durch drei Beweggründe. Die Christen hegten eine stark ausgeprägte eschatologische Hoffnung, die immer eine Kritik an der bestehenden Welt implizierte. Ihr strenger Monotheismus machte es den Anhängern des Christusglaubens unmöglich, am Kaiserkult zu partizipieren, was einen Affront gegen den römischen Staat darstellte. Zudem wurden die Christen von ihrer heidnisch geprägten Umwelt zumeist als Fremdkörper empfunden. In ihrer Heilsgewissheit, ihrem engen Gemeinschaftsleben und ihrer strengen Lebensführung, die sogar die Bereitschaft, für den Glauben zu sterben einschloss, unterschieden sie sich stark von den gesellschaftlichen Normen des römischen Kaiserreichs.
Die Rechtslage, die die Christenverfolgungen legitimierte, ist aus heutiger Sicht recht uneinheitlich. Das Christentum war keine religio licita, also keine der erlaubten Religionen. Es war aber nicht verboten, sondern galt dem Römischen Staat lediglich als verdächtig. Dies bedeutet, dass es stets im Ermessen der jeweiligen Statthalter und Magistrate lag, wie sie mit dem Christentum umgingen.