Die Zwei-Quellen-Theorie

Hypothese zur Entstehung der synoptischen Evangelien


Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts hat sich die theologische Forschung mit dem literarischen Zusammenhang der drei synoptischen Evangelien nach Markus, Matthäus und Lukas beschäftigt. In diesen drei Texten tauchen immer wieder identische Motive und Formulierungen auf, die man zu erklären versuchte.

Heute gilt die sogenannte Zwei-Quellen-Theorie (entstanden gegen Ende des 19. Jahrhunderts) als allgemein anerkannt.

Sie besagt, dass das Markus-Evangelium Matthäus und Lukas als Quelle diente. Dies lässt sich mit der Tatsache begründen, dass diese beiden Evangelien den Stoff des Markus-Evangeliums fast vollständig enthalten. Auffälligerweise stimmen Matthäus und Lukas aber sogar dort, wo sie über Markus hinausgehen, ebenfalls miteinander überein. Das hat die Forschung veranlasst, eine weitere Quelle anzunehmen, auf die Matthäus und Lukas zurückgegriffen haben. Die Übereinstimmungen, die sich nicht aus Markus herleiten lassen, betreffen im überwiegenden Maße Worte Jesu (sog. Logien). Daher wird diese Quelle auch als Spruch- oder Logienquelle (Q) bezeichnet. Es handelt sich dabei höchstwahrscheinlich um Aufzeichnungen der Reden Jesu, die nach der ursprünglich mündlichen Weitergabe schließlich in griechischer Sprache verfasst worden sind. Diese Quelle kann nur erschlossen werden; sie liegt als selbstständig überliefertes Werk nicht vor.

Natürlich besitzen sowohl Matthäus als auch Lukas auch eigenständige Inhalte, die als Sondergut bezeichnet werden.

Schaubild Zwei-Quellen-Theorie Zweiquellentheorie

Die Zielgruppe von Q waren sicherlich zunächst die frühen Christen in Galiläa, also das direkte Umfeld des Wirkens Jesu. So wurde auch die Botschaft der Logienquelle zunächst durch Wanderprediger (oder mit Theißen „charismatische Wanderradikale“) verbreitet. Man wird die Spruchquelle Q somit als judenchristliches Dokument ansprechen dürfen. 

Obwohl Q zunächst rein mündlich überliefert worden ist, machten vor allem zwei Aspekte eine Verschriftlichung notwendig. Zum Einen ist hier der Übergang von einer durch Wanderprediger verbreiteten Religion zur Sesshaftwerdung in Form von Gemeinden ursächlich. Zum Anderen wurde mit dem Aussterben der Augenzeugen, also spätestens eine Generation nach dem Wirken Jesu die Verschriftlichung notwendig, um die Botschaft zu bewahren. Somit ist für die Endredaktion der Spruchquelle Q um das Jahr 70 n. Chr. anzunehmen. In diesem Jahr erfolgt die Eroberung Judäas und die Zerstörung des Jerusalemer Tempels. Dieses gravierende Ereignis lässt sich auch in einigen Worten der Spruchquelle Q wiederfinden. Sei es, dass die bevorstehende Eroberung und Tempelzerstörung aus der brisanten Lage in Judäa heraus gleichsam prophetisch angedeutet wird, oder sei es dass der Autor aus der Rückschau auf dieses existentielle Ereignis blickt.

Nehmen wir also an, die rekonstruierbare Spruchquelle Q war als redigiertes Schriftstück im Umlauf, so ergeben sich daraus Implikationen auf die Geschichte des frühen Christentums. Die Theologie von Q ist geprägt von charismatischem, radikalem Gedankengut. Vor dem Hintergrund des nahen Reichs Gottes propagiert die Logienquelle Pazifismus, Abkehr von dieser Welt, Besitzlosigkeit und weitere Aspekte der asketischen Lebensweise eines Wanderpredigers, wie es auch Jesus gewesen ist.

Hierin liegt somit eine vierte Säule christlicher Theologie neben der synoptischen, der johanneischen und der paulinischen Tradition.

Die Spruchquelle Q ist ein Dokument, mit dem wir unmittelbar an den historischen Jesus und seine Lehre herankommen. Wieviel davon allerdings wirklich der ursprünglichen Botschaft des Wanderpredigers Jesus entspricht, bleibt offen.

Obwohl keine schriftliche Fassung der Spruch- oder Logienquelle Q vorliegt, lässt sie sich doch in Teilen aus den übereinstimmenden Formulierungen der synoptischen Evangelien erschließen. 

Der Urtext von Q war aller Wahrscheinlichkeit nach in sieben Abschnitte gegliedert. Hoffmann, Paul/Heil, Christoph (Hrsg.): Die Spruchquelle Q, Darmstadt 2002 schlagen folgende Gliederung vor:

  • Abschnitt 1: Johannes, der Täufer und Jesus
  • Abschnitt 2: Die Boten des Menschensohnes
  • Abschnitt 3: Jesus im Konflikt mit dieser Generation
  • Abschnitt 4: Die Jünger in Erwartung des Menschensohnes
  • Abschnitt 5: Die Krisis Israels
  • Abschnitt 6: Die Jünger in der Nachfolge Jesu
  • Abschnitt 7: Das Ende